von Florian Renz

Sivakasi. Schon mal gehört?

Nein? Ich bis vor ein paar Monaten auch nicht. Wer bei Google Sivakasi eintippt bekommt sehr viele Treffer zu einem indischen Bollywood-Streifen und ein paar weitere Treffer zu einer etwa 100.000 Einwohner zählenden Stadt in der südindischen Provinz.

Sivakasi in Indien. Welthauptstadt der Feuerwerks Industrie.
Eine ganz normale Stadt in Südindien?

Während der Film bei der Plattform IMDB nicht einmal durchschnittliche Bewertungen aufweist, ist die Suche nach der Stadt deutlich interessanter. Sich in den gängigen Reiseführern auf die Suche nach Sivakasi zu machen, wird allerdings ergebnislos bleiben. Weder der allgegenwärtige und 1,400 Seiten starke Lonely Planet kennt Sivakasi, noch die anderen gut dreißig Reiseführer, die ich im Vorfeld meiner Recherche zu Sivakasi in der Hamburger Bücherhalle stehen, geben eine Auskunft. Und dennoch ist die Stadt weit über die Grenzen von Indien hinaus bekannt: Und zwar als wichtigste Produktionsstätte für Feuerwerkskörper und Streichhölzer überhaupt – ein Teil der Produktion landet an Silvester auch in unseren Händen, in Europa.

Sivakasi Feuerwerksindustrie
Die „City“ von Sivakasi

Was hat das nun mit mir zu tun? Dazu kehren wir ein paar Monate zurück: Es ist Juli 2018, wir erleben in Deutschland gerade den Jahrhundertsommer und an einem Sonntagabend findet das Finale der in Russland stattfindenden Fußballweltmeisterschaft statt. Während Frankreich gegen den Überraschungsfinalisten Kroatien spielt, stoße ich im Internet auf ein interessantes Straßenkinderheimprojekt in Indien, das quasi aus meiner Nachbarschaft, aus Hamburg-Hoheluft, geleitet wird.

Der Tempel von Sivakasi
Wichtigstes Bauwerk der Stadt ist der Tempel

Ich bin zu diesem Zeitpunkt nämlich auf der Suche nach einem geeigneten Projekt, dem ich meinen Gewinn eines Fußball WM-Tippspiels schenken kann. In meinem Unternehmen sind wir über 170 Tipper und ich habe es mit wenig Verstand, aber umso mehr Glück auf den dritten Platz geschafft, was eine stattliche Summe ergeben hat. Und während die beiden Finalisten den WM-Pokal noch ausspielen, stoße ich auf das Projekt KIDZ Shelter, in der mir unbekannten südindischen Stadt Sivakasi im Bundesstaat Tamil Nadu.

Markt und Leute
Markt und Leute

Weil das Klima sehr trocken ist und es bedeutend weniger regnet als an der Küste, ist Sivakasi ein äußerst geeigneter Standort für die Produktion von Feuerwerkskörpern, schließlich ist die Trockenheit bei der Herstellung und Lagerung sehr von Vorteil. Unzählige Firmen stellen die Produkte her und handeln mit der Ware, in weiten Teilen der Stadt und den umliegenden Orten stolpert man quasi über Fabriken, Shops und der dazugehörigen Werbung. Der Jahresumsatz mit Feuerwerkskörpern beträgt in der „Cracker City“ über fünf Milliarden Euro (2011).

Werbung für einen Feuerwerksfabrikverkauf
Werbung für einen Feuerwerksfabrikverkauf

Seit 1991 sind aber auch über 120 Todesfälle bei der Herstellung der Böller dokumentiert, vor allem in den 1970er und 80er Jahren wurden zahlreiche Fälle von Kinderarbeit aufgedeckt. Obwohl diese in Indien verboten ist, kommt es bis heute immer noch vor, dass Kinder für diese Arbeit herangezogen werden. Mit großer Unterstützung der indischen Behörden und den eigens dafür ausgebildeten Child Protection Officers ist das KIDZ Shelter in der Welthauptstadt der Feuerwerkskörper damit ein deutliches Zeichen gegen Kinderarbeit. Und darüber hinaus eine Herzensangelegenheit für ein kindgerechtes Aufwachsen und einer guten schulischen Ausbildung.

Junge Menschen in Sivakasi
Junge Menschen in Sivakasi

Insgesamt betreut die 1965 von Adolf Klein in Norddeutschland gegründete Patengemeinschaft für hungernde Kinder e.V. 20 Heime mit 1.800 Kindern und ungefähr 300 Familien in den indischen Bundesstaaten Kerala und Tamil Nadu. Die beiden Hamburger Hadmut Scholz und Rüdiger Jester betreuen unter dem Dach der Patengemeinschaft das Kinderheim in Sivakasi. 25 Mädchen wohnen hier rund um die Uhr und besuchen von Montag bis Samstag die Grund- bzw. weiterführenden örtlichen Schulen. Mit den Spendengeldern haben die Mädchen die Gelegenheit, einen Schulabschluss zu machen und anschließend eine Berufsausbildung zu erhalten.

Die City von Sivakasi
Die City von Sivakasi

Was ich während des WM-Finales noch nicht ahnen kann, dass ich die beiden Verantwortlichen für dieses Projekt in den nächsten Wochen mehrmals treffen werde und sich schon bald herausstellt, dass sie meine Hilfe gut gebrauchen können. Denn schließlich ist es nicht leicht, für Spendenprojekte zu sammeln. Wir überlegen uns, wie wir neue Spender für das Projekt gewinnen können, im Besonderen auch mit Hilfe eines professionellen Web-Auftritts und einer Kampagne in den sozialen Medien. Und da ich mich zu diesem Zeitpunkt bereits für einen Urlaub gegen Ende des Jahres im von Sivakasi nicht all zu weit entfernten Sri Lanka entschieden habe, liegt der Plan klar auf der Hand: Ich werde die Gelegenheit haben, das Projekt direkt zu besuchen und mir einen Eindruck vor Ort zu verschaffen.

Mitte November ist es dann soweit. Der kurze Flug von Sri Lanka nach Trivandrum dauert keine Stunde, alles läuft nach Plan und am Flughafen nimmt mich Baby Paul in Empfang, der seit 1988 zur Patengemeinschaft gehört. Baby ist Vorsitzender des in Indien eingetragenen Vereins The Patengemeinschaft for hungering Children, verantwortlich für die Kinderheime und Ausbildungsprogramme und pflegt den Kontakt mit den zuständigen indischen Behörden. Er begrüßt mich aufs Allerherzlichste und so bestätigt sich sogleich die Ankündigung von Hadmut und Rüdiger, was für eine besondere Ausstrahlung Baby besitze. Wir fahren einige Stunden bis zur orthopädischen Kinderklinik in Mylaudy und am Tag darauf noch ein paar Stunden bis Sivakasi. Auf der Fahrt lernen Baby und ich uns kennen, erzählen uns von uns und unseren Leben. Bereits nach wenigen Stunden weiß ich zu berichten, wie gerne ich Zeit mit Baby verbringe. 

Sivakasi

Mein erster Eindruck von Sivakasi gehört ganz alleine den Feuerwerkskörpern. Man muss das wirklich gesehen haben, schon die Vororte sind gesäumt von unzähligen Fabriken und Geschäften, die alle mit rot-gelber Werbung für die Produkte werben. Über viele Kilometer begleiten die Schilder den Autofahrer auf dem Weg von der Autobahnabfahrt bis in die Stadtmitte von Sivakasi. Und je weiter wir ins Zentrum kommen, desto „gewöhnlicher“ wird es. Sivakasi ist eine unauffällige, aber umtriebige und staubige südindische Stadt, an der sich auch im Zentrum hier und da Hinweise auf die führende Industrie finden, sei es ein Cracker Shop oder eine Wandbemalung, die einmal mehr ein Feuerwerk zeigt. Und wer nachts aus seinem Hotelzimmer schaut, wird mit großer Sicherheit irgendwo am Rande dieser Stadt auch ein Feuerwerk sehen.

Die Autobahnabfahrt nach Sivakasi
Die Autobahnabfahrt nach Sivakasi

Unser Ruhepol in der Hektik von Sivakasi bildet das Hotel Bell, das einfache, aber saubere Zimmer bietet und und ein exzellentes Restaurant, in das wir uns Abends gerne zurückziehen und bei Naan, Reis und verschiedenen Paneer-Gerichten den Abend passieren lassen. Natürlich darf auch gesüßter Tee und das obligatorische Bier auf der schönen Dachterrasse nicht fehlen. Am Sonntag fahren wir aber erst einmal ins KIDZ Shelter und ich muss zugeben, ich bin etwas aufgeregt.

Sivakasi
Sivakasi

Die zuständige Behörde für das Kinderheim ist das District Child Protection Office von Virudhunagar, man kann sich das etwas vorstellen wie das Jugendamt in Deutschland. Dort hat Baby mein Kommen angemeldet, mit Reisepass und Visum bin ich für den Besuch registriert und habe die Erlaubnis bekommen, am heutigen Sonntag das Kinderheim zu betreten und mich mit den Kindern zu unterhalten. Foto- oder Videoaufnahmen darf ich nicht machen.

Im KIDZ Shelter

Es ist ziemlich genau zwölf Uhr, als wir am KIDZ Shelter eintreffen und noch bevor ich aus dem Auto steigen kann, werden mir bereits Blumen entgegen gestreckt und die Kinder begrüßen mich mit Gekreische und Gejohle. Ich lerne Nisha kennen, die das Heim seit mehreren Jahren leitet, ebenso wie ihre neue Kollegin Devakala und die Köchin Jacqulin. Die Drei werden noch unterstützt von einem Wächter und einer Reinigungskraft. Und zwischendrin nun die 25 Mädchen, die mich mit großen, erstaunten Augen anschauen und darauf warten, dass etwas passiert. Und so ähnlich muss ich auch ausgesehen haben.

Das Schild über unserem Heim
Das Schild über unserem Heim

Ich bin völlig überfordert, als ich in die vielen Gesichter schaue und mit meinen Blicken jedes Mädchen einzeln begrüße. Die Kinder tragen ihre schönsten Kleider, elegant und farbenfroh stehen sie mir gegenüber, immer noch in freudiger Erwartung. Nachdem ich die Blumen entgegen nehme und eine kleine Begrüßungsrede halte, folge ich den Kindern ein paar Stufen in das KIDZ Shelter hinein. Wir betreten den zentralen Raum im Erdgeschoss und biegen von dort aus nach rechts in den Essensraum, der mich an ein Klassenzimmer erinnert. Denn es sind mehrere Schulbänke, die allen Kindern ausreichend Platz bieten und so verwundert es auch nicht, dass dieser Raum auch für Unterricht genutzt werden kann. Noch ehe ich die Bilder an der Wand alle richtig wahrgenommen habe, wird mir klar, was mich noch an die Schule erinnert. 

Die Mädchen stehen alle brav hinter ihrem Pult und warten darauf, dass sie sich setzen dürfen und ganz unfreiwillig werde ich in die Rolle des Lehrers gedrängt. Als Erstes verteile ich mitgebrachte Schokoriegel, die wir natürlich sofort gemeinsam verspeisen. Als Zweites zeige ich mit meinem Finger auf ein Bild an der Wand, auf dem verschiedene Früchte, Gemüsesorten und Tiere abgebildet sind. Eigentlich möchte ich nur fragen, wer das Bild gemacht hat, aber die Mädchen rufen schon laut und deutlich “Mango!”. Ein Blick auf meinen Finger verrät was hier gerade passiert, denn ich zeige auf die Mango, die Frucht, die unten links auf dem Schaubild abgebildet ist. Und genau nach diesem Prinzip verfahren wir die nächsten Stunden, wenn wir uns gegenseitig die Welt erklären. Alle Regeln der Zeichensprache werden angewendet, ergänzt um das südindische Schulenglisch. Ich lerne Worte auf Tamil und erkläre meinen immer noch äußerst aufmerksam Zuhörern die Übersetzung ins Deutsche. Und so bewegen wir uns von der Mango über die Gurke hin zum Elefanten bis wir schließlich wieder bei der Mango landen. 

Ich muss mir eingestehen, dass ich schlecht vorbereitet bin, denn ich habe es völlig unterschätzt, wie es ist, mit 25 Kindern gleichzeitig zu spielen. Ich möchte ja kein Mädchen außen vor lassen und versuche meine Aufmerksamkeit möglichst gerecht aufzuteilen. Vorbereitet auf mögliche Gespräche und Spiele bin ich nicht, erinnere mich aber an meine eigene Kindheit und Jugend. Und so bringe ich den Mädchen in Sivakasi das in meiner schwäbischen Heimat verbreitete “Kommando Bimberle” bei. Ich zeige den Mädchen verschiedene Bewegungen, die ich mit meinen Fingern, Armen und Beinen mache. Die Mädchen lernen die Bewegungen und die dazugehörigen Begriffe und müssen sie nachmachen, immer dann wenn ich ein “Kommando” vorneweg setzen. Dabei darf ich als “Vorführer” auch etwas anderes machen, als ich dazu sage, die Kinder als “Nachmacher” müssen das Kommando aber richtig ausführen, sonst haben sie verloren. Kommando Bimberle können wir gemeinsam als vollen Erfolg verbuchen und wir lachen und haben viel Spaß, am Besten gefällt uns allen Kommando Monkey, bei dem wir uns kratzen und dazu Affengeräusche machen.

Die Spiele der Kinder, die sie mir beibringen, funktionieren nach demselben Prinzip: Bei “Cake, Tea, Mango” macht Nisha die entsprechenden Handbewegungen, täuscht aber manchmal etwas Anderes vor, die Kinder und ich müssen das aber korrekt mit den Händen zeigen. Ich verliere ebenso deutlich dieses Spiel wie auch das “Small Pot, Big Pot”, bei dem man mit den Händen zeigen muss, wie groß oder klein der Topf ist. Der Clou ist aber, dass immer das Gegenteil gezeigt werden muss, was gesagt wurde. Ganz einfach: Wenn es heißt “kleiner Topf”, dann sollte ich mit meinen Händen einen großen Abstand zeigen. Weil ich das aber dauernd falsch mache, lachen sich die Kinder natürlich kaputt.  

Spielen macht jung und alt gleichermaßen hungrig, daher passt es ganz gut, dass wir mit dem gemeinsamen Mittagessen gleich den nächsten Programmpunkt vor uns haben. Die 25 Mädchen sind in so genannte Komitees organisiert, wie zum Beispiel das Gesundheitskomitee oder das Gartenkomitee und eben das Essenskomitee. Gemeinsam mit der Heimmutter Nisha muss dieses Komitee unter Berücksichtigung des zur Verfügung stehenden Budgets auf dem Markt einkaufen und den Speiseplan zusammenstellen. Natürlich stehen diese Mädchen in direkter Auseinandersetzung mit dem Gesundheitskomitee, das wiederum darauf achtet, dass unter anderem auch die Ernährung angemessen gewählt wird. Gemeinsam mit der Köchin verteilen diese Kinder das Essen und sorgen dafür, dass wir alle versorgt sind. Weil es Sonntag ist, gibt es Hühnchen mit Reis. Baby und ich bekommen eine vegetarische Speise und unterscheiden uns daher von den Mädchen. Was uns aber alle eint, wir essen mit den Händen und natürlich sehen die vielen Kinderaugen, dass ich das gar nicht gut beherrsche und mir ständig der Reis aus der Hand fällt.  

Nach dem Essen setzen wir uns im Hauptraum zusammen auf den Boden und jetzt gilt es wichtige Fragen zu klären. Ich spreche alle Kindernamen nach, mache eine Umfrage zum Alter (Mädchen zwischen 8 und 18 Jahren sind im Heim vertreten) und möchte wissen, welchem Beruf die Kinder später einmal nachgehen wollen. Hoch im Kurs stehen die Sparten Polizei, Arzt, Krankenschwester, Lehrer – ja alle Wünsche sind auf diese vier angesehenen Berufe zurück zu führen – mit Ausnahme des einen Mädchens, das ein Indian Administration Officer werden möchte, eine Art höchster Beamter im Landkreis. Diese Berufswünsche sind schöne Beispiele dafür, wie Nisha ihren Mädchen vermittelt, dass sie als Frauen eine selbstbewusste und vor allem gleichberechtigte Rolle im von Männer dominierten Indien einnehmen werden.  

Und jetzt kommt der Moment, in dem ich auf die liegende Acht herein falle: Ich erkundige mich bei den Mädchen, ob wir Musik machen wollen. Mehrere Köpfe wackeln leicht von rechts nach links und zurück, das indische „Nein“ mit der Kopfbewegung einer liegenden Acht. Obwohl die Kinderaugen strahlen, deute ich die Reaktion als ein Nein und erst nach ein paar Sekunden merke ich, dass ich das Kopfwackeln einmal mehr falsch gedeutet habe. Ich ernte auf meinen Vorschlag also die volle Zustimmung. Die Kinder vom Musikkomitee organisieren daraufhin ein Keyboard. Ich spiele als Erstes ein deutsches Volkslied vor, als Zweites das auf asiatischen Handys als Klingelton allgegenwärtige “Für Elise” und schließlich singe ich ein Kinderlied, das wir dann gemeinsam auf Tamil übersetzen und mehrere Male im Chor mit Keyboardbegleitung zum Besten geben. Nach einer letzten Runde Kommando Bimberle ende ich mit dem Kommando Kuchen, den ich an alle austeile und wir schließen damit die interaktive Session, damit Baby mit mir eine Hausbesichtigung vornehmen kann. 

Dabei konzentrieren wir uns vor allem auf die Umbauarbeiten, die vorgenommen werden müssen, damit alle Regeln des District Child Protection Office eingehalten werden. Neben den mir schon bekannten Räumen im Erdgeschoss, also dem Hauptraum, dem Essensraum (das Klassenzimmer) sind dort noch die Küche sowieso zwei Personalräume und ein kleines Büro untergebracht. Im Obergeschoss des zweistöckigen Hauses gibt es einen Lern- und Hausaufgabenbereich, der zu den Seiten hin offen ist, sowie der große Schlafbereich, auf dem die Kinder nachts ihre Matten ausbreiten und dort übernachten. Und genau dieser Raum ist zentraler Bestandteil der neuen Anforderungen. Die Wellblech-Dachkonstruktion entspricht nicht mehr den Anforderungen und müsste erneuert werden, alternativ könnten die Kinder auch im Erdgeschoss schlafen, dazu müssten dann aber die Küche und der Essensbereich in das Obergeschoß wechseln. Weiterhin wird diskutiert, ob die Küche eventuell in einem kleinen Anbau Platz finden könnte und welche  Möglichkeiten bestehen, den an den Seiten offenen Lern- und Hausaufgabenbereich gegen Regen zu schützen. Und schließlich geht es um ein Wärterhäuschen, das direkt am Eingang des KIDZ Shelter platziert werden müsste.

Es gibt also eine Menge Ideen und die entscheidenden Kriterien sind natürlich die Machbarkeit und Praktikabilität auf der einen Seite und die Kosten auf der anderen Seite. Dafür spreche ich ausführlich mit Nisha, die zu bedenken gibt, dass es in der Tat Vorteile hätte, “unten” zu schlafen, dort wäre es wesentlich kühler und die Kinder seien dann auch näher am Wärterposten. Auf der anderen Seite müsste dann “oben” gekocht werden oder zumindest – bei einem neuen Küchenanbau – das Essen nach oben transportiert werden. Aber dies sei machbar, denn es gebe ja das Küchenkomitee, das sich dieser Aufgabe annehmen könnte. 

Die Lage aus baulicher Sicht wird am Tag nach meinem Besuch durch einen Ingenieur unter die Lupe genommen. Mit Baby und dem eingetroffenen Sundar vom Dawn Institute of Rural Develoment macht der Ingenieur einen Rundgang durch das Haus. Er sieht insgesamt mehrere Lösungen, zum Beispiel auch eine Sanierung des Dachs, was bislang als nicht möglich galt – und wir nehmen dies als gute Nachrichten auf. Detaillierte Kostenvoranschläge zu den verschiedenen Optionen werden in den nächsten Wochen folgen. Insgesamt ist Nisha mit der Situation im Augenblick sehr zufrieden, die Zusammenarbeit mit den Behörden funktioniert immer besser und natürlich ist die Unterstützung durch Baby und sein Büro unbezahlbar. Für die Mädchen wünscht sie sich zu Weihnachten die Möglichkeit, den Kindern neue Kleider zu schenken. Ein Wunsch, den ich Nisha zusage und gerne erfülle.

Nachdem ich mir einen guten Eindruck vom Haus machen konnte, wird es Zeit, aufzubrechen. Ich mache mit den Mädchen eine letzte Runde Kommando Bimberle und wir wünschen uns gegenseitig alles Gute und freuen uns schon auf das nächste Mal. Die Kinder fragen mich auch immer wieder nach ihren deutschen Freunden Hadmut und Rüdiger und ich erzähle ihnen von den Beiden und richte den Kindern die besten Grüße aus und darf ein Wiedersehen für das kommende Jahr ankündigen. Als ich mit Baby schon im Auto sitze und die Scheibe runterkurbele, gebe ich noch das Kommando Bye Bye und fünfzig winkende Hände verabschieden sich von uns.

Dieser Tag im KIDZ Shelter in Sivakasi wird bei mir noch lange anhalten, das ist jetzt schon klar. Die vielen freudigen Kindergesichter, die hellen Stimmen, die Begeisterung für unsere Spiele – all das werde ich nicht vergessen. Und inzwischen kenne ich auch den Hintergrund der Kinder noch besser, ich habe dazu bei Nisha genauer nachgefragt. Oftmals sind die Väter der Kinder Alkoholiker und vernachlässigen ihre Arbeit und auch ihre Familie. Stattdessen schicken sie ihre Kinder zum Arbeiten, in Sivakasi natürlich vornehmlich in die Fabriken der Feuerwerksindustrie. Obwohl wie schon beschrieben Kinderarbeit in Indien verboten ist, gibt es immer wieder solche Fälle. Kinder sind günstige Arbeitskräfte und eignen sich besonders gut in der Herstellung der Cracker und Böller. Die aufmerksamen Lehrer bekommen dies oft mit und melden das dann Nisha und damit haben die Kinder die Chance, ins KIDZ Shelter aufgenommen zu werden. 

Die Feuerwerksindustrie

Am Folgetag habe ich die Möglichkeit, eine typische Feuerwerkskörper Fabrik zu besuchen. Wir fahren hierzu in einen Vorort von Sivakasi. Auf einem mehreren Hektar großen Areal befindet sich nicht etwa ein großes Fabrikgebäude, wie ich mir das vorgestellt hatte. Vielmehr sind es viele kleine Häuschen mit einem Grundriss von jeweils etwa fünf auf fünf Metern, in denen die Produktion statt findet. Der Hintergrund ist ganz pragmatisch wie bezeichnend: Passiert in einem der Häuschen ein Unfall, so sind die anderen Standorte nicht betroffen. 

Werkzeuge in der Feuerwerksindustrie
Werkzeuge in der Feuerwerksindustrie

Die auffällig hohe Anzahl an Unfällen ist seit längerem ein Problem der Industrie. Seit zwei Wochen herrscht aber auch ein Arbeitsverbot; der oberste Gerichtshof hat in zwei Urteilen Ende Oktober die Produktion erst einmal untersagt, unklare Sicherheitsverhältnisse sind dafür wohl verantwortlich. Daher wird bei unserer Besichtigung des Werksgeländes auch gar nicht gearbeitet. Eine Situation, die Sivakasi natürlich zu schaffen macht, denn die komplette Cracker Industrie in Indien ist vom Beschluss des Gerichtshofs betroffen. 

Feuerwerksreklame in Sivakasi
Feuerwerksreklame in Sivakasi

Der Abschluss unseres Fabrikrundgangs bildet der Besuch einer Lagerhalle, in der in unzähligen Kartons die fertig verpackten und zum Verkauf bereit stehenden Produkte lagern. Zwei Fabrikarbeiter zeigen mir alle Produkte voller Stolz und lassen mich diese begutachten. Vom James Bond Böller bis zum Super Paket mit 200 Schuss ist alles dabei. Die aufgedruckten Verkaufspreise sprechen eine eindeutige Sprache: Mit Feuerwerkskörpern lässt sich nur schwer Geld verdienen, die Preise sind auf einem extrem niedrigen Niveau, die Gehälter sind niedrig, was wiederum auch die Verbindung zu der verbotenen Kinderarbeit darstellt. Dazu die aktuellen Diskussionen bezüglich der Herstellungsverbote und Sicherheitsaspekte – im Augenblick scheint es um die Feuerwerksproduktion in Sivakasi nicht zum Besten bestellt zu sein. 

Mit Baby mache ich schließlich auch noch einen ausführlichen Spaziergang durch die Stadt. Die Menschen sind ausgesprochen freundlich und sprechen mich ständig an. Jugendliche bitten um ein Selfie mit mir und generell wollen alle von mir fotografiert werden. An den Häuserfassaden im umtriebigen Sivakasi finden sich auch immer wieder Hinweise auf den Status als Cracker City. Wandbemalungen zeigen Feuerwerke und Böller und immer wieder gibt es Outlets und kleine Shops, in denen man entsprechende Produkte kaufen kann. 

City von Sivakasi mit dem Tempel
City von Sivakasi mit dem Tempel

Für mich war es wichtig, in Sivakasi die Umstände und die Lebenssituationen kennenzulernen, wichtige Kontakte in Indien zu treffen und ein Gespür für die Heime und ihre besonderen Herausforderungen zu bekommen. Weiterhin konnte ich umfangreiches Bild- und Videomaterial von der Stadt Sivakasi erstellen. Damit habe ich das Fundament legen können, um die nächsten Schritte für unser Vorhaben anzugehen. Meine Herausforderung in den nächsten Monaten wird es sein, mithilfe der digitalen Medien neue Spender zu gewinnen. 

Dankeschön.

Ein großes Dankeschön möchte ich allen voran Baby Paul aussprechen, der mich wie ein Freund fünf Tage lang begleitet hat. Weiterhin danken möchte ich allen anderen wunderbaren Mitarbeitern der Patengemeinschaft, die ich in Indien kennenlernen durfte. Mein herzlicher Dank gilt außerdem den Menschen, die ich im Vorfeld meiner Reise nach Indien in Deutschland treffen durfte, allen voran Hadmut Scholz und Rüdiger Jester für das Projekt in Sivakasi, und Ulrike Lorenzen als Vorsitzende der Patengemeinschaft.

Der Tempel bei Nacht
Der Tempel bei Nacht

Und abschließend möchte ich meinen Reisebericht zum Anlass nehmen, allen Spendern zu danken, die in den vergangenen Jahren immer wieder die Projekte der Patengemeinschaft unterstützt haben. Vom Personal in den Heimen und von den Kindern selbst ist mir so viel Dankbarkeit übermittelt werden. Das möchte ich an alle Unterstützer weiterreichen. Es ist wunderbar zu sehen, was mit der Hilfe aus Deutschland in Kerala und Tamil Nadu schon alles erreicht werden konnte!

Florian Renz, im Dezember 2018

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