von Hadmut Scholz und Rüdiger Jester
Indien! Ein stark aufstrebendes Land mit großen Gegensätzen!
Jedes Mal, wenn wir dieses Land besuchen, staunen wir erneut über die Straßen mit den riesigen Schlaglöchern, dem ständigen Gehupe der Autofahrer, den bunten Saris der Frauen, den würzigen Gerüchen in den Restaurants, den unzähligen Palmen und Bananenstauden, den wunderschönen Landschaften, dem unsäglichen Lärm bis tief in die Nacht….. Man könnte meinen, im letzten Jahrzehnt hätte sich nichts verändert. Aber wenn wir genauer hinschauten, entdeckten wir viele Veränderungen. Es gibt kaum noch Familien, die am Straßenrand leben, dafür ist der Verkehr noch quirliger geworden und es gibt es etwas bessere Straßen…
Indien möchte zur Ersten Welt gehören und dieser Wunsch tangiert direkt unsere Arbeit in den Heimen, die der Regierung ein Dorn im Auge sind; beweisen sie doch, wie viel Armut es nach wie vor im Land gibt. Trotzdem versuchen die Behörden aktiv, die Auflagen für Heime so zu verschärfen, dass sie nur noch schwer umsetzbar sind. So soll ein Heim mit zum Beispiel 26 Kindern mindestens 16 Mitarbeiter haben. Das erhöht die Unterhaltungskosten. Betreuten wir lange Zeit 33 bis 35 Kinder, so sind es zur Zeit nur noch 23. Dank des guten Verhandlungsgeschicks unserer sehr kompetenten Betreuer der Patengemeinschaft vor Ort, Baby und Saju, können die vielen Auflagen etwas abgefedert werden.
Die wirtschaftliche Lage Indiens widerspricht dem überzogenen Ehrgeiz der Regierung. Die Inflation stieg im Januar 2020 um 7,6 %, nachdem sie sich im November noch auf 5,5 % belaufen hatte. Bei Lebensmitteln allein betrug der Anstieg 14,2 %. Das bedeutet, dass arme Familien noch mehr als bisher auf Unterstützungsangebote wie die von unserem Heim angewiesen sind. Sie können bei den rasant steigenden Preisen die Lebensmittel nur noch schwerlich in der Menge einkaufen, die notwendig wäre, um alle satt zu machen.

Hinzu kommt der Rückgang des wirtschaftlichen Wachstums in Indien, der sich insbesondere in dem wichtigen Bausektor (nur noch 3,3 %) und der Landwirtschaft (2,1 %) bemerkbar macht. Laut einem Artikel vom 6. Februar in der sehr angesehenen Zeitung „The Hindu“ sind davon insbesondere 30 – 40 % der untersten Bevölkerungsschichten betroffen. In 2019 lebten 44 % der indischen Bevölkerung unterhalb der Armutsgrenze. 50 % der schlecht ernährten Kinder auf der Welt leben in Indien. Damit nimmt das Land Rang 112 weltweit ein. 40 – 45 % der Bevölkerung kann entweder überhaupt nicht lesen bzw. schreiben oder hat nur die Grundschule bis zur 4. Klasse besucht.
Deshalb hoffen wir sehr, dass die Heime der Patengemeinschaft weiterhin erhalten bleiben, kommen sie doch den Kindern zugute, die aus den ärmsten Familien stammen.
Zwölf Jahre ist es her, dass wir zum ersten Mal nach Sivakasi gefahren sind. So spüren wir viel Wehmut, denn aus Altersgründen wird es das letzte Mal sein, dass wir „ unsere Kinder“ besuchen, die wir im KIDZ Shelter haben aufwachsen sehen und deren seelisches, geistiges und physisches Wohl uns all die Jahre so sehr am Herzen gelegen hat. So richtig können wir uns auch nicht vorstellen, nie wieder nach Sivakasi zu kommen, auch wenn es Zeit wird loszulassen. Unser Glück ist es ja, dass sich unser Nachfolger, Florian Renz, mit seinen vielen neuen Ideen, Herzblut und Elan der Betreuung der Kinder widmen wird. Gleichwohl werden wir im Hintergrund weiter um Spenden werben und in ständigem Kontakt mit Florian sein. Er übernimmt nun die Reisen nach Indien und kümmert sich in erster Linie mit Baby und Saju um die Betreuung des KIDZ Shelter.
Natürlich kamen wir auf dieser Reise nicht umhin, auf die Anfänge unseres Heimes zurückzublicken. Als wir vor zwölf Jahren spontan entschieden, uns hier zu engagieren, waren die Kinder in einem gemieteten Haus untergebracht, damals noch Mädchen und Jungen gemischt, das direkt an einem Abwasserkanal lag und bei Mücken ein besonders beliebter Ort war. Ohne mindestens zehn stark juckende Stiche verging kein Besuch. Natürlich wurden auch die Kinder von diesen Insekten arg gequält. Die Kinder, damals noch fast alle Straßenkinder, besuchten unabhängig von Alter und Geschlecht eine einklassige Sonderschule, um auf die Grundschule vorbereitet zu werden. Gekocht wurde in einem kleinen Unterstand neben dem Haus auf einem offenen Feuer. Morgens und abends kamen Scharen von hungrigen Kindern, um ein warmes Essen zu bekommen.

Nach wenigen Jahren fanden wir ein deutlich geräumigeres Haus. Inzwischen gab es weniger Straßenkinder, dafür mehr aus den ärmsten Verhältnissen aus den umliegenden Slums. War die Fluktuation der Kinder in den ersten Jahren recht groß, weil viele Kinder doch wieder gern „frei“ sein wollten, so blieben zunehmend mehr Kinder im Heim, hatten sie doch verstanden, dass Bildung das wichtigste Gut ist, um der Armut zu entkommen und ein besseres Leben führen zu können.
Zwei weitere Entscheidungen vor sechs Jahren veränderten das Leben im Heim entscheidend. Wir mussten uns von den Jungen trennen, nachdem sexuelle Übergriffe in indischen Kinderheimen häufiger bekannt geworden waren. Wir haben das sehr bedauert, denn bei uns lernten die Kinder respektvoll miteinander umzugehen, die Unterschiede zu erleben und Vorurteile abzubauen.
Ein weiterer Meilenstein war, als sich die Patengemeinschaft 2013 entschloss – nicht zuletzt dank der bei Ihnen eingeworbenen Spenden – in Sivakasi ein Haus zu kaufen. Wir fanden ein Haus in der Nähe des derzeit gemieteten. Es war zwar noch nicht ganz fertig gestellt, gab uns aber so die Chance, vor dem Einzug die baulichen Veränderungen vorzunehmen, die für ein Kinderheim geboten waren.
Kürzlich ist das Haus umfassend renoviert worden. So wurde das Blechdach durch ein Betondach ersetzt; nun ist es im Sommer nicht mehr so drückend heiß darunter und im Winter herrschen angenehmere Temperaturen. – Was immer noch fehlt, ist eine Spielfläche draußen für die Kinder, denn das Haus lag ursprünglich in einem nur wenig bebauten Gebiet. Jetzt sind in unmittelbarer Nachbarschaft zahlreiche Einfamilienhäuser entstanden und unsere Kinder wohnen nun in einem Wohngebiet ohne ausreichend Platz zum Spielen. Das bedeutet, dass sie sich nach der Schule nur im Haus aufhalten können, was aus nahe liegenden Gründen kein guter Zustand ist. Eine kleinere noch unbebaute Fläche, dem Haus gegenüber liegend, bietet sich hier als Spielfläche an. Erste Gespräche mit den Eigentümern über eine eventuelle Anmietung oder notfalls einem Ankauf haben begonnen.

Die Gruppe der bei uns lebenden Mädchen ist inzwischen recht konstant. Alle gehen in die nahe liegende allgemeine Schule und geben sich große Mühe, den geforderten Ansprüchen gerecht zu werden. Das stellt uns nun vor eine ganz neue Situation. Hatten bisher erst zwei Mädchen nach Beendigung der Schule das Heim verlassen, so sind es in diesem Jahr fünf, im nächsten Jahr weitere sechs Kinder. Die Sorge, was aus diesen Mädchen wird, beschäftigte uns in diesem Jahr besonders, ist es doch unser starkes Anliegen, sie weiter zu unterstützen, damit sie eine zukunftsträchtige Ausbildung machen. Und hier gibt es den Konflikt mit der Restfamilie: Die Mehrzahl der verbliebenen Eltern-/Großelternteile möchte, dass ihr Kind jetzt sofort ein Arbeitsverhältnis eingeht, kann es auf diese Weise doch die Familie finanziell unterstützen. Hinzu kommt, dass es ohnehin bald heiraten soll.
Wir haben unsere Heimleiterin Nisha deshalb nachhaltig gebeten, bis zum Ende des Schuljahres im April mit allen Betroffenen zu sprechen. Sie muss einerseits die Restfamilie überzeugen, dass sie einer weiteren Ausbildung zustimmt. Gleichzeitig soll sie den Mädchen helfen, eine Ausbildung zu machen, die sie sich wünschen und die ihren Fähigkeiten entspricht. Allerdings haben manche Mädchen berufliche Träume, die sich aufgrund ihrer bisherigen schulischen Leistungen nicht verwirklichen lassen. Unsere Aufgabe ist es nun, Sponsoren für diese Mädchen zu finden, die bereit sind, mindesten 30 Euro im Monat für einen Ausbildungs- oder Collegeplatz aufzubringen.

In diesem Jahr hatten wir ansonsten eine fröhliche Zeit mit den Kindern. Hadmut versuchte, ihnen das Lied „Kuckuck, Kuckuck ruft es aus dem Wald….“ beizubringen. Außerdem haben wir uns mit Lauf- und Lernspielen amüsiert, sie haben für uns gesungen und getanzt.
Die Gespräche mit den Kindern ergaben, dass sie sich alle im Haus sehr wohl fühlen. Sie sind dankbar dafür, dass sie hier gut lernen können, es Personen gibt, denen sie sich anvertrauen können und Freundinnen haben, mit denen das Zusammensein sich einfach gut anfühlt. – Auch die Mitarbeiterinnen im Heim geben an, gut im Team zu arbeiten und sich gegenseitig in vielen Situationen zu unterstützen, sei es bei der Betreuung eines kranken Kindes, beim Einkauf oder der Hausaufgabenbetreuung.
Wichtig war für uns zu erfahren, dass Nisha, unsere langjährige Heimleiterin, gerade von einer fünftägigen Fortbildung zurückkam und begeistert davon erzählte. Die Regierung verlangt seit kurzem, dass das Heimpersonal fortgebildet wird. Das Thema in diesem Jahr waren: „Wie verläuft die kindliche Entwicklung, geistig, physisch, emotional?“. „Woran kann ich als Heimbetreuerin erkennen, dass ein Kind bestimmte Phasen noch nicht wirklich abgeschlossen oder auch gar nicht gemacht hat?“ „Wie gehe ich mit abweichendem Verhalten um und wie helfe ich Kindern, dieses zu überwinden?“ Wir sind dankbar und froh, dass den Seminarteilnehmern deutlich gemacht wurde, welchen Wert Zuwendung und Vertrauensaufbau für Kinder haben. Gerade in diesem Bereich erleben wir Nisha als sehr stark , darüber berichten die Kinder auch immer wieder.
Was sicher noch in weiteren Fortbildungen erprobt und geübt werden muss, ist der praktische Umgang mit Problemen wie z.B. Einnässen , Nägelkauen oder innerer Rückzug.
Auch in diesem Jahr gibt es wieder eine kleine Erfolgsgeschichte in unserem Heim: Vor rund zwölf Monaten kam die zehnjährige Kavyasri in unser Haus. Der Vater, psychisch angeschlagen, hatte die Familie verlassen. Daraufhin lief die Mutter, die sich mit zwei Kindern überfordert fühlte, ebenfalls davon. Die Großmutter kümmerte sich eine Zeit lang um die Mädchen, entschied dann aber, das kleinere ins Heim zu geben. Trotz dieses schwierigen familiären Hintergrunds hat Kavyasri sich nicht unterkriegen lassen. Sie steckte all ihre Kraft ins Lernen und war damit so erfolgreich, dass sie in der Gesamtwertung ihrer Leistungen 98 von 100 Punkten in der Schule erreichte. Die Schulbehörde des Bezirks belohnte sie mit anderen erfolgreichen Kindern, indem sie alle zusammen für zwei Tage nach Chennai einlud. Die Kinder flogen gemeinsam dorthin, besuchten den Strand, spielten miteinander und hatten insgesamt viel Spaß. Für „unsere“ Kavyasri ein großes Erlebnis, hatte sie doch vorher das Meer noch nie gesehen. Als wir ihr nach ihrer Rückkehr ein paar Fragen auf Englisch stellten, antwortete sie ohne zu zögern, hatte sie uns doch sehr gut verstanden, was bei fast allen anderen Kindern im Heim leider nicht so der Fall ist. So hoffen wir nun, dass dieses Kind weiterhin so gut betreut und gefördert wird, dass sie ihren erfolgreichen Weg fortsetzen kann und später eine Ausbildung oder ein Studium macht, der ihr ein unabhängiges Leben ermöglicht.
In unseren früheren Berichten war schon mehrfach die Rede davon, dass die Sozialbehörde immer mehr Einfluss auf die Arbeit in den Heimen nimmt. Neuerdings suchen die Beamten auch die Resteltern/-großeltern auf, um sie zu fragen, warum sie ihr Kind in ein Heim gegeben haben. Sie weisen darauf hin, dass ein Kind viel besser Zuhause aufgehoben sei. Dem können wir im Prinzip nur zustimmen. Wenn die Eltern dann auf ihre Armut hinweisen, verspricht man ihnen staatliche Unterstützung. Diese findet allerdings doch nicht statt. Der Grund für diese Aktivitäten ist, dass es nicht zum Selbstbild der Regierung passt, im internationalen Vergleich trotz des in den vergangenen Jahren verzeichneten wirtschaftlichen Wachstums so viele Kinderheime im Land zu haben, die von ausländischen Organisationen betrieben werden.

Wir möchten Ihnen zum Schluss noch einmal sehr herzlich danken, dass Sie uns bei unserem Engagement für das KIDZ Shelter über so viele Jahre so tatkräftig unterstützt haben. Wir würden uns sehr freuen, wenn Sie den Kindern im KIDZ Shelter weiterhin verbunden blieben.
Hadmut Scholz und Rüdiger Jester, im März 2020